Simone Ochsner
«Underlig Blandning i Fieldene», «Wunderliche Vermischung in den Bergen».
Marginalien und die Frage der Autorität *
1. Das Zitat «Underlig Blandning i Fieldene»1 («Wunderliche Vermischung in den Bergen»)2 ist dem ersten Teil von Erik Pontoppidans Det første Forsøg paa Norges naturlige Historie (1752) beziehungsweise Versuch einer natürlichen Geschichte Norwegens (1753) entnommen. Es handelt sich dabei um die Aussage einer Marginalie aus dem siebten Paragraphen von Kapitel ii «Om Norges Grunde, Fielde og hvad derved er merkværdigt» («Vom Grund und Boden des Landes»). Sie bildet den Ausgangspunkt des vorliegenden Artikels.
Ausgehend von eben dieser Marginalie und des Paragraphen, in welchem sie verortet ist – er setzt sich mit dem Zusammenhang der Sintflut und den Prozessen der Gesteinsschmelzung auseinander und beschäftigt sich unter anderem aus einem geologischen Blickwinkel mit einer Gesteinsformation bei Stenesund in der Nähe von Bergen, Norwegen – werfe ich einen Blick auf das Verhältnis zwischen dem sogenannten Text oder Lauftext, wie ich ihn bezeichne, und den Marginalien, die «am Rande bemerkt» sind,3 sowie weiteren Elementen des Paratexts4 von Paragraph vii. Der Artikel soll aus einer buchhistorischen Perspektive Verbindungen zwischen dem Paratext (primär den Marginalien) und dem Lauftext zu Tage fördern und untersuchen, ob zwischen ihnen eine Hierarchie betreffend der Vermittlung von Wissen besteht, beziehungsweise wie sich die Verhältnisse bezüglich Autorität zwischen ihnen auszeichnen. Handelt es sich bei den Marginalien hinsichtlich der Wissensvermittlung um eine Art Hilfsdiskurs, der den Lauftext unterstützt und die Funktion hat, den Lesenden als Einstieg in den eigentlichen Text zu dienen? Führt der Lauftext die Marginalien aus und kommentiert er sie oder muss man von immer wieder sich ändernden Funktionen und Verhältnissen in Bezug auf Autorität ausgehen?
Nach einer kurzen Beschreibung des Primärtexts Det første Forsøg paa Norges naturlige Historie nähere ich mich in einem ersten Schritt dem Begriff des Paratexts an und zeige mit Hilfe von Gérard Genettes Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Davide Giuriatos Prolegomena zur Marginalie5 und Evelyn B. Tribbles Margins and Marginality. The Printed Page in Early Modern England6 verschiedene Forschungspositionen hinsichtlich der Hierarchie zwischen der Marginalie und dem Lauftext auf. Danach analysiere ich die Ausprägungen der Seitenoberflächen in Paragraph vii aus Kapitel ii des ersten Teils von Det første Forsøg paa Norges naturlige Historie hinsichtlich der Verbindungen und Verhältnisse zwischen Lauftext und paratextuellen Elementen und schliesslich sollen aus der Analyse Schlüsse in Bezug auf diese umstrittene Beziehung gezogen werden.
2. Die Abhandlung Det første Forsøg paa Norges naturlige Historie wurde 1752 und 1753 in zwei Teilen in Kopenhagen, der Hauptstadt der Doppelmonarchie Dänemark-Norwegen, von Erik Pontoppidan, dem damaligen Bischof von Bergen, publiziert. (Abbildung 1) Der Text beschreibt auf über 800 Seiten die klimatischen und geographischen Verhältnisse des Landes, Flora und Fauna, Metalle und Mineralien und die norwegische Bevölkerung. Darüber hinaus vermittelt die Naturgeschichte Wissen über die damaligen ökonomischen Verhältnisse in der Doppelmonarchie, sie regt zur Verbesserung der Landwirtschaft an und lobt die dänische Staatsmacht. Dabei basiert der Text durchgehend auf einer physikotheologischen Grundhaltung, welche die Herrlichkeit der Natur, die natürlichen Phänomene und Objekte, als Beweis für die Existenz Gottes auffasst. Der Text enthält zahlreiche paratextuelle Elemente wie Kupferstiche, Fussnoten und autographe beziehungsweise auktoriale, originale oder gedruckte Marginalien. Erschien das dänische Original von 1752/53 in Format Quarto, wurde die deutsche Übersetzung Versuch einer natürlichen Geschichte Norwegens von 1753 und 1754 nur halb so gross, in Format Oktav gedruckt, die englische Übersetzung, die 1755 erschien, hingegen in Format Folio.7
3. In diesem Artikel wird der Text als eine komplexe Struktur verstanden, die jedes Detail der formalen und physischen Präsentation in einem spezifisch historischen Kontext einschliesst.8 Ich verwende folglich einen Textbegriff, nach welchem sich ein Text nicht von seinem Träger, dem Medium Buch, lösen lässt, ohne dass diese Trennung Konsequenzen auf dessen Aussage mit sich führt. Ausgehend davon nehme ich an, dass Wissen in Det første Forsøg paa Norges naturlige Historie nicht nur durch den Inhalt des Lauftexts, sondern auch durch die Materialität9 des Buchs vermittelt wird, durch sämtliche paratextuellen (respektive peritextuellen) Elemente wie Buchanfänge mit Titelblatt, Widmung, Vorwort und Inhaltsverzeichnis, durch die Typographie, durch Illustrationen, Fussnoten und Marginalien. Das Wissen kann dabei einfach, bisweilen aber auch mehrfach verortet werden. Von Mehrfachverortungen spreche ich im Zusammenhang mit der Wissensinszenierung dann, wenn sich Wissen über ein bestimmtes Objekt oder Phänomen sowohl im Lauftext wie auch in einer Illustration zeigt, oder wenn der Erzähler einen Gegenstand sowohl in der Marginalie als auch im Paragraphentitel und im Lauftext erwähnt. Ich gehe davon aus, dass sämtliche verschiedenen Elemente eines Buchs bedeutungstragend sind.
Diese Ausgangslage, der breite Textbegriff, diese verschiedenen Verortungsmöglichkeiten von Wissen und seiner Inszenierung im Medium Buch, führen zur Frage nach der Hierarchie zwischen dem Lauftext und dem Paratext – in diesem Artikel spezifisch den autographen Marginalien – hinsichtlich der Wissensvermittlung.
Gérard Genettes Paratextualitätskonzeption hat sich seit der Publikation von Seuils im Jahr 1987,10 das zwei Jahre später als Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches auf Deutsch vorlag, in theoretischer und methodischer Hinsicht schnell verbreitet, erlaubt sie doch eine nähere Betrachtung der ‚materialen’ Textorganisation.11 Dennoch war und ist diese Konzeption nicht unumstritten. Grundsätzlich wird in dieser Konzeption davon ausgegangen, dass es sich bei paratextuellen Elementen – beinahe unabhängig von ihren Funktionen – um ein Beiwerk zum Buch handelt, wie dies im Untertitel der deutschen Übersetzung deutlich hervortritt. Gleichzeitig aber ist der Paratext, dieses Beiwerk, unentbehrlich und Genette zufolge lässt sich behaupten, dass es keinen Text ohne Paratext gibt oder je gegeben hat, denn ein Text wird erst durch den Paratext zum Buch.12 Erst der Paratext, verstanden als ein Schwellentext zwischen dem Diskurs der Welt über den Text und dem Text selbst, ermöglicht den Zugang zu einem Text.13 Die paratextuellen Elemente haben folglich gegenüber dem Lauftext eine nebengeordnete, beziehungsweise nach Ansicht von Genette eben eine untergeordnete Stellung, und diese ist seiner Meinung nach das prägende Charakteristikum der unter dem Begriff ‚Paratext’ zusammengefassten Menge an Praktiken und Diskursen. Der Paratext sei in allen seinen Formen ein zutiefst heteronomer Hilfsdiskurs, der im Dienste des Texts stehe und seine Daseinsberechtigung bilde.14
Eine Ausnahme von der Funktion als Beiwerk des Buchs bildet laut Genette die autographe Anmerkung,15 deren paratextuellen Charakter er in Frage stellt. Für sie gilt nicht, was er sonst über das Wesen der Anmerkungen, mit welchen er Marginalien und Fussnoten zusammenfasst, schreibt, dass sie «den Status einer fakultativen Lektüre besitzen und sich folglich nur an gewisse Leser richten können: an diejenigen, die sich für die eine oder andere ergänzende oder abschweifende Überlegung interessieren, deren beiläufiger Charakter eben das Abschieben in die Anmerkung rechtfertigt».16 Genette versteht sie hingegen als lokale Umwege oder als momentane Verzweigungen des Texts.17 Er schreibt zusammenfassend nach einer kurzen Analyse von Originalanmerkungen in Texten aus verschiedenen Jahrhunderten: «dass die auktoriale Anmerkung hier wohl hauptsächlich die Funktion einer Ergänzung, mitunter einer Abschweifung und sehr selten die eines Kommentars erfüllt: und sich [...] sinnvoll in den Text eingliedern liesse».18 Anmerkungen solcher Art werden bei Genette somit im weitesten Sinne als dem Lauftext ebenbürtig angesehen.
Davide Giuriato unterscheidet hinsichtlich Marginalien zwischen autographen Randglossen, die durch eine paratextuelle Rahmung die Grenze zum Lauftext stabilisieren und autographen Randnotizen, welche «meistens an jenem delikaten Ort [stehen], wo sich der Haupttext noch gar nicht als solchen konstituiert hat».19 Johannes Klaus Kipf unterscheidet bezüglich der Funktionen von gedruckten Marginalien die folgenden: Marginalien, die gliedern und orientieren, die auf Quellen und Parallelstellen verweisen und Marginalien, die eine erklärende, didaktische, erzählende und/oder zugleich analytische Funktion haben.20 Evelyn Tribble, die sich ebenfalls mit dem Wesen der Marginalie beschäftigt, verweist auch auf die unterschiedliche Funktion von Marginalien. Ihr zufolge können sie einen Lauftext bestätigen, ihn zusammenfassen und unterstreichen beziehungsweise stabilisieren,21 ihn aber auch untergraben oder mit ihm einen Wettstreit eingehen.
Aus diesen Aussagen geht eine grobe Zweiteilung der Funktionen von Marginalien hervor: Marginalien, die eine stabilisierende, eine gliedernde und/oder zusammenfassende Funktion haben und Marginalien, die erklärend, kommentierend sind und/oder Abschweifungen erlauben, die mit dem Lauftext einen Wettstreit eingehen können, die sich ohne Weiteres in ihn integrieren liessen. Das heisst, Marginalien, welche die Grenze zwischen Paratext und Lauftext nicht festigen und offensichtlich machen, sondern sie vielmehr verwischen und unscharf werden lassen und die Autorität zwischen Marginalien und Lauftext in Frage stellen.
Diese Situation des Wettstreits im Bezug auf Autorität und damit verbunden auf Hierarchie hinsichtlich der Beziehung zwischen Marginalien und Lauftext gilt, so meine Behauptung, nicht nur für das Verhältnis zwischen dieser zweiten Gruppe von Marginalien und dem Lauftext sondern ebenso für die Beziehung zwischen dem Lauftext und derjenigen Gruppe von Marginalien, die Giuriato mit dem Begriff der autographen Randglosse bezeichnet, welcher üblicherweise die Stabilisierung des Lauftexts zugeschrieben wird. Ich gehe davon aus, dass diese Gruppe von Marginalien ebenso um die Aufmerksamkeit der Lesenden buhlen kann wie der Lauftext selbst.
Wie gestaltet sich also das Verhältnis von Marginalien und Lauftext auf den Buchseiten von Paragraph vii des zweiten Kapitels im ersten Band von Det første Forsøg paa Norges naturlige Historie? Von welcher Art sind die Marginalien, auf welche Weise ziehen sie die Aufmerksamkeit auf sich? Ist zwischen ihnen und dem Lauftext eine deutlich Hierarchie auszumachen? Sind sie hinsichtlich ihrer Funktion so scharf zu trennen, dass bei diesen Marginalien klar von einem Hilfsdiskurs gesprochen werden muss oder hat man es vielmehr mit immer wieder verschieden sich ausprägenden Funktionen der einzelnen Elemente zu tun?
4. Paragraph vii «Syndflodens Virkning i at opløse og blødgiøre det, som nu er allerhaardest, men kiendelig sees eengang at have været blødt», «die Wirkung der Sündfluth im Auflösen und Weichmachen dessen, was nun am allerhärtesten ist, woran man aber sehr deutlich sehen kann, dass es ehmals weich gewesen», befasst sich auf neun Seiten in vier Abschnitte gegliedert wie aus dem Titel hervorgeht mit den Auswirkungen der Sintflut auf das norwegische Gebirge, mit den Spuren, die sie in den geologischen Formationen hinterliess, beziehungsweise mit der Bestätigung der Tatsache, dass die Sintflut tatsächlich stattgefunden hat.
Es gibt zahlreiche paratextuelle Elemente: einen Kupferstich, drei Marginalien und sieben Fussnoten. Der Aufbau der Doppelseite spiegelt sich am Bund. Der Lauftext grenzt sich gegen oben durch eine horizontale Linie ab, über welcher die Seitenzahlen und eine Zusammenfassung des Kapiteltitels angebracht sind, in vorliegendem Fall «Om Grunden». Gegen unten grenzt er sich ebenfalls durch eine horizontale Linie von den Fussnoten ab.
Richtet man den Blick auf die Typographie kommen weitere Ausformungen des Paratexts zum Vorschein: Für den ersten Buchstaben des Lauftexts von Paragraph vii wurde eine ungeschmückte Majuskel gesetzt.22 Heiligennamen wie «St. Oluf», biblische Figuren wie «Noah» oder Ortsnamen, beispielsweise «Bergen» sowie Fremdwörter («fabuleux», «Petrification» oder «Solidum intra solidum»)23 erscheinen im in Fraktur gehaltenen Lauftext üblicherweise in Antiqua. Letztes Beispiel wird zudem in einer kursiven Variante wiedergegeben.24 In kursiver Schrift werden sonst nur Titel dargestellt, Theoria Telluris25 von Thomas Burnet beispielsweise oder John Woodwards Geographia Physica.26 Namen von Autoren, die zitiert werden, oder auf die der Erzähler hinweist, zeichnen sich durch Grossbuchstaben in Antiqua aus (Abbildung 2). Fett in Fraktur treten zwei Wortfolgen hervor, es sind dies der Titel einer Abhandlung «Erste[r] Tempel Gottes»27 und der Ortsname «Stene-Sund».28 Weshalb der theologische Text von Johann Otto Glüsing, erschienen 1720, mit fetten Buchstaben hervorgehoben wird, ist, ebenfalls wie die zuvor angesprochene auffällige kursive Darstellung von «solida intra solida», nicht auszumachen. Die Verwendung von fetter Schrift für die geographische Bezeichnung «Stene-Sund» hingegen schon, wie ich im weiteren Verlauf aufzeigen werde.
Die drei Marginalien im siebten Paragraphen von Kapitel ii des ersten Teils von Det første Forsøg paa Norges naturlige Historie sind wie sämtliche Marginalien in der Naturgeschichte Pontoppidans von autographer, gedruckter Art, die zur «ursprünglichen Produktionseinheit des Buches»29 zählen. Während bei den Marginalien bezogen auf die gesamte naturhistorische Abhandlung zwei Funktionen auszumachen sind – die Zusammenfassung einzelner Textsegmente und ein seltenes Mal die Betonung einzelner Details – handelt es sich bei den Marginalien im hier zentralen Paragraphen nur um solche zusammenfassender Art, die den Lauftext in einigermassen regelmässigen Abständen flankieren und den Lesenden auf zwei Ebenen von Textsegmenten, Einblick in das Wissen, welches im Lauftext vermittelt wird, bieten. Die drei Marginalien sind auf die ersten drei Abschnitte des Paragraphen verteilt. Informieren die zweite und dritte Marginalie die Lesenden über die zentralen Diskussionselemente des Lauftexts der betreffenden Abschnitte «Gisninger om Jord-Klodens Opløsning» («Muthmassung von der Auflösung der Erdkugel») und «Underlig Blandning i Fieldene» («Wunderliche Vermischung in den Bergen»), bezieht sich die erste Marginalie auf den gesamten Paragraph vii, sie fasst die abgehandelte Thematik des Paragraphen zusammen: «Syndflodens Virkning i at opløse og blødgiøre det, som nu er allerhaardest, men kiendelig sees eengang at have været blødt» («die Wirkung der Sündfluth im Auflösen und Erweichen dessen, was nun am allerhärtesten ist, woran man aber sehr deutlich sehen kann, dass es ehmals weich gewesen») (Abbildung 3). Aufmerksamen Lesenden entgeht dabei nicht, dass das Wissen, welches diese erste Marginalie ihnen vermittelt, präzis mit einem anderen paratextuellen Element, demjenigen des Titels von Paragraph vii übereinstimmt.30 Dieser Paragraphentitel ist aber nicht derselbe Titel, der im Lauftext zwischen Paragraph vi und vii erscheint. Diesen ausführlichen Paragraphentitel findet man nur zu Beginn von Kapitel ii, das wie jedes Kapitel am Anfang ein Verzeichnis über die im jeweiligen Kapitel enthaltenen Paragraphen präsentiert (Abbildung 4). Im Lauftext hingegen ist der ausführliche Titel reduziert auf «§. 7.», auf die gesamte Inhaltsangabe wird verzichtet, es bleiben nur der Einteilungstypus und die mechanischen Unterteilung ohne jeglichen thematischen Bezug übrig31 und der ausführliche Paragraphentitel wird in der ersten Marginalie von Paragraph vii wiedergegeben. Während die Marginalie den deskriptiven Teil des Paragraphentitels übernimmt, verbleibt in der Paragraphenüberschrift im Lauftext nur noch Formales übrig. Es ist folglich zu beobachten, dass dieselbe Information durch verschiedene paratextuelle Elemente wandert, dass sie nicht zwingend fix verortet ist, sondern verschoben werden kann. Dies gilt nicht nur für diesen hier im Zentrum stehenden Paragraphen, sondern es handelt sich um einen üblichen Prozess in der Naturgeschichte Pontoppidans.
Den Grund für die Verlagerung der deskriptiven Elemente aus Paragraphentiteln in Marginalien zu Beginn der Paragraphen hängt wohl damit zusammen, dass ein querlesender Blick grundsätzlich von einer Marginalie schneller gefangen wird als von einem im Lauftext positionierten Paragraphentitel, beziehungsweise dass Marginalien (und weitere paratextuelle Elemente), die eine orientierende und leitende Funktion durch den Text haben, den Blick der Lesenden allgemein stärker für sich beanspruchen als dies der Lauftext und die darin eingeschobenen Titel es tun, was besonders deutlich auf einer Doppelseite aus Paragraph vii herausgearbeitet werden kann (Abbildung 5).
Im Zentrum dieser Doppelseite steht die geologische Formation bei Stene-Sund im Bezirk Evindvig, welche der Erzähler als Beispiel von zahlreichen Gesteinsformationen in Norwegen heranzieht, die von den Schmelzprozessen während der Sintflut zeugen und sich dadurch auszeichnen, «dass man fremde feste Körper in den festen Körpern (solida intra solida) selbst in grosser Menge findet».32 Über diese Gesteinsformation werden die Lesenden wie folgt informiert:
I Evindvig Sogn, 6 Miile Norden for Bergen, er et Sted, kaldet Stene-Sund, hvor man seer Fieldet paa en halv Fierdingveys langt at fremvise de Petrefacta, som søges i Kunst-Kamre, nemlig mange Slags saa kaldede Cornua Hammonis, store og smaa Snegle, Muslinger, Orme, Insecter, og jeg veed ikke hvad, som ey kunde kaldes Lusus Naturæ, hvilket Ord synes i slige Ting Lusus Poëticus, og er en fattig Udflugt for dem, som vil negte det unegtelige. Alle disse Skabninger sidde der ligesom indæltede i en Dey, og at Klippen var blød som Dey eller Dynd, da de først blevne hængende deri, det kand ikke negtes af nogen fornuftig Beskuere.33
In dem Bezirke Evindvig, sechs Meilen in Norden von Bergen, ist ein Ort, Stenesund genannt, wo man an dem Gebürge einer halben Viertelmeile lang solche versteinerte Sachen findet, die in Kunstkammern gesucht werden, nämlich viele Arten der so genannten Hammonshörner, grosse und kleine Schnecken, Muscheln, Würmer, Insecten, und ich weiss nicht, was noch mehr. Dieses kann kein Spiel der Natur genennet werden, welcher Ausdruck mir in solchen Sachen ein poetisches Spielwerk zu seyn scheinet, und eine elende Ausflucht derer ist, die unläugbare Dinge läugnen wollen. Alle diese Gestallten sitzen daselbst gleichsam als wenn sie in einen Teig gedruckt wären, und als ob die Klippen so weich wie ein Teig oder wie ein Sumpf gewesen, als sie zuerst darinnen hängen geblieben. Es kann dieses von keinem vernünftigen Beschauer geläugnet werden.34
Es ist aber nicht diese schriftliche Vermittlung von Wissen über die geologische Formation bei Stene-Sund im Lauftext, auf welche der Leser beim Aufschlagen dieser Doppelseite in Det første Forsøg paa Norges naturlige Historie zielgerichtet fokussiert. Der Blick richtet sich nicht primär auf die Position dieser Formationsbeschreibung im Lauftext, auch wenn Stene-Sund als erster Beweis von mehreren in der norwegischen Natur für die Bestätigung der Hypothese des Schmelzprozesses, welchem die Erde zur Zeit der Sintflut unterworfen war, in der Naturgeschichte prominent aufgeführt und die Ausprägung der Formation detailliert geschildert wird. Die Gesteinsformation in der Nähe von Stene-Sund fällt zuallererst losgelöst vom Lauftext in Form des Kupferstichs in den Fokus der Lesenden.
Abgebildet auf diesem neben der zitierten Passage des Lauftexts verorteten Kupferstich ist ein schroff abfallendes Felsengebilde, an dessen Wänden über die gesamte Fläche unzählige Schnecken und Muscheln «saa kaldede Cornua Hammonis, store og smaa Snegle, Muslinger, Orme, Insecter, og jeg veed ikke hvad»35 («[so genannte] Hammonshörner, grosse und kleine Schnecken, Muscheln, Würmer, Insecten, und ich weiss nicht, was noch mehr»)36 zu sehen sind. Im Wasser tummeln sich Fische. Von dort aus sucht der Blick der Lesenden nach Erklärungen zu diesem Kupferstich und schweift so ans untere Ende des Kupferstichs zu dessen Titel, Fieldet ved Stene Sund,37 der sich zusammensetzt aus dem Objekt, das abgebildet ist, dem Felsen, und dem Ortsnamen, an welchem dieses geologische Gebilde zu finden ist, und von da aus weiter über den Lauftext auf die gegenüberliegende Seite, wo er an der Marginalie am linken Seitenrand hängen bleibt «Underlig Blanding i Fieldene»38 («Wunderliche Vermischung in den Bergen»).39 Diese Aussage ist direkt verbunden mit dem Kupferstich, der die merkwürdige Vermischung des Gesteins visuell sofort erkennbar macht. Es ist eine direkte inhaltliche Übertragung von einem paratextuellen Element in ein anderes, beziehungsweise eine inhaltliche Entsprechung. Durch das Hin- und Herschweifen über den Lauftext von Kupferstich zu Marginalie und wieder zurück, bleibt der Blick an einem Wort im Lauftext hängen. Es ist der bereits oben erwähnte Ortsname «Stene-Sund», der im Lauftext als einziges Wort dieser Seite fett gedruckt ist. Sämtliche anderen Ortsnamen in derselben Passage sind wie meist in dieser Naturgeschichte in Antiqua gedruckt und ziehen deshalb keine besondere Aufmerksamkeit auf sich. Durch diese auffallende Typographie verweist dieser Ortsname aber auf sich selbst und gleichzeitig verweist er auch auf den Titel des Kupferstichs, Stene-Sund, der wiederum auf den typographisch hervorgehobenen Ortsnamen im Lauftext verweist. Wie sich bereits die Aussage der Marginalie und des Kupferstichs in gewissem Masse decken, ist dies auch mit dem im Lauftext vermittelten Wissen der Fall, jedoch, wie wir im ersten Zitat dieser Doppelseite gesehen haben in einer viel ausführlicheren Weise. Die «Underlig Blanding i Fieldene»40 («Wunderliche Vermischung in den Bergen»)41 wird detailliert geschildert:
hvor man seer Fieldet paa en halv Fierdingveys langt at fremvise de Petrefacta [...]. Cornua Hammonis, store og smaa Snegle, Muslinger, Orme, Insecter, og jeg veed ikke hvad [...]. Alle disse Skabninger sidde der ligesom indæltede i en Dey, og at Klippen var blød.42
wo man an dem Gebürge einer halben Viertelmeile lang solche versteinerte Sachen findet [...]. Hammonshörner, grosse und kleine Schnecken, Muscheln, Würmer, Insecten, und ich weiss nicht, was noch mehr [...]. Alle diese Gestallten sitzen daselbst gleichsam als wenn sie in einen Teig gedruckt wären.43
Die in diesem Zitat erwähnten Geschöpfe sind auf dem Kupferstich deutlich sichtbar im Felsen eingebunden. Zusätzlich zu diesen Verbindungen zwischen Kupferstich, Marginalie und Lauftext, wird der Lauftext von einer relativ kurzen Fussnote am unteren Seitenrand mit einer Hypothese flankiert: «At alle Steene engang har været en blød Dey eller Leer-Velling, antages som en udgjort og unegtelig Sandhed»44 («dass alle Steine ehmals ein weicher Teich oder ein schleimichter Brei gewesen, wird für eine ausgemachte und unläugbare Wahrheit angenommen»).45 Sie kommentiert die Entstehung der sonderbaren auf dem Kupferstich abgebildeten Gesteinsformationen und klärt die Lesenden in kurzer und prägnanter Weise über dieses Phänomen auf. Dasselbe geschieht im Hinblick auf die Marginalie. Vergleicht man den Inhalt dieser Fussnote mit der Fortsetzung der Erläuterungen zu der Gesteinsformation in Stene-Sund im Lauftext, fällt auf, dass ihr Inhalt diesen weiteren Erläuterungen des Lauftexts sehr nahesteht: «og at Klippen var blød som Dey eller Dynd, da de først blevne hængende deri, det kand ikke negtes af nogen fornuftig Beskuere»46 («und als ob die Klippen so weich wie ein Teig oder wie ein Sumpf gewesen, als sie zuerst darinnen hängen geblieben. Es kann dieses von keinem vernünftigen Beschauer geläugnet werden»).47 Fussnote und Lauftext geben vergleichbares Wissen wieder. Ausserdem schlägt der Lauftext an dieser Stelle eine weitere Brücke zum Kupferstich mit dem Hinweis, dass keinem vernünftigen Betrachtenden – hier werden die Lesenden indirekt angesprochen – verborgen bleiben könne, dass diese Versteinerungen im weichen Gestein hängen geblieben seien.48
Aus der Analyse dieser Doppelseite geht deutlich hervor, dass Wissen über die Gesteinsformation mehrfach auf der Buchoberfläche verortet wird; nicht nur im Lauftext, sondern auch im Kupferstich, in der Marginalie und in der Fussnote. Dabei überlappen sich die Wissenselemente. Die Aussage des Kupferstichs wird in der Marginalie wiedergegeben, sie wird ergänzt mit einer Hypothese in der Fussnote. Der Lauftext gibt ebenfalls die Aussage des Kupferstichs wieder, er wiederholt in ähnlicher Form die Hypothese, die in der Fussnote formuliert wird und kommentiert die Aussage der Marginalie. Dieselben Wissenselemente werden nicht nur mehrfach verortet, vielmehr werden sie mehrschichtig miteinander verknüpft. Sie verweisen gegenseitig aufeinander und verweisen durch ihre paratextuelle Markierung auf sich selbst. Dies hat auf der Ebene der Wissensvermittlung die Wirkung, dass auf diese Weise inszeniertes Wissen von grosser Wichtigkeit, stabil und unumstösslich und folglich wahr ist. Es scheint berechtigt, soviel Druckfläche auf den Seiten für sich beanspruchen zu dürfen. Die Diskussion über die Schmelzprozesse des Gesteins im Zusammenhang mit der Sintflut, von welcher die Doppelseite über Stenesund ein Teil ist, stellt in Pontoppidans Naturgeschichte ein zentrales Element dar, was durch die Dichte der Kupferstiche, die zu Kapitelii «Om Norges Grunde, Fielde og hvad derved er merkværdigt» («Vom Grund und Boden des Landes») betont wird,49 eine Tatsache, die im Kontext der europäischen Forschung zu verstehen ist, in welcher die Geologie zur Zeit der Publikation von Det første Forsøg paa Norges naturlige Historie ein wichtiger Themenkomplex darstellte.
5. Wie die vorausgehende Analyse zeigt, beinhalten die Seiten aus Paragraph vii des zweiten Kapitels aus Teil i von Pontoppidans Naturgeschichte zahlreiche paratextuelle Elemente, die untereinander, aber auch mit dem Lauftext über die Seiten hinweg ein dichtes Geflecht aus verschiedenartigen Bezügen und Verbindungen erzeugen. Die Elemente des Paragraphentitels aus der Paragraphenübersicht zu Beginn von Kapitel ii werden aufgeteilt, den Einteilungstypus und die mechanische Unterteilung übernimmt der Paragraphentitel im Lauftext, der thematische Bezug wird in der ersten Marginalie des Paragraphen verortet. Aussagen des Paratexts spiegeln sich teilweise im Lauftext, bisweilen auch in anderen paratextuellen Elementen.
Ausgehend von diesen vielfachen Verknüpfungen stellt sich die Frage, wie ein solcher Text überhaupt gelesen werden soll. Mir scheint es unmöglich, sich aufgrund der zahlreichen heterogenen paratextuellen Elemente, die den Lauftext in verbaler aber auch in nonverbaler Form umgeben und durch das gesamte Buch hindurch, sowie auf den einzelnen Seiten ein Netz aus sich unregelmässig kreuzenden Diskursen bilden, beim Lesen dieses Texts bloss auf den Lauftext zu konzentrieren. Entscheidet man sich dennoch für einen stur linearen Lesevorgang, bedeutet dies einen bewussten Verzicht auf den Einblick in die Kommunikation zwischen Lauftext und Paratext und in die Inszenierungsmöglichkeiten von Wissen, welche der Raum auf den Seitenoberflächen ermöglicht. Ein solcher Text aber lädt offensichtlich zu einem relationalen Lesevorgang ein, bei welchem sich der Blick auf der Seitenoberfläche (wiederholt) in verschiedenen Richtungen bewegt und die verschiedenen Elemente der Seitenoberfläche miteinbezieht. Dieser Prozess zeigt auf, dass es sich bei der Stabilität, die sich durch die Technik des Buchdrucks hinsichtlich der genauen und unverrückbaren Verortung von Wissen auf den Seitenoberflächen und der mehrfachen Reproduzierbarkeit eines Texts in ein und derselben Form ergab, nur um eine vordergründige handelt, bahnt sich der Blick der Lesenden doch selbst einen Weg durch das präsentierte Wissen. Die These des relationalen Lesens wird unterstützt durch eine Aussage von Lawrence Lipking in Tribbles Text: Er geht davon aus, dass der Übergang von der Verwendung von Marginalien zur Verwendung von Fussnoten ein neues hierarchisches Wissenssystem zur Folge hatte, welches den Lauftext nicht nur visuell klar über die Anmerkungen in Form von Fussnoten stellte, sondern auch im Hinblick auf die inhaltliche Relation.50 Dies bedeutet, dreht man die Aussage um, dass in Texten, in welchen sowohl Marginalien als auch Fussnoten vorhanden sind und der Lauftext in der Folge visuell nicht ausschliesslich über den Anmerkungen verortet, sondern auch von ihnen flankiert wird, keine deutliche Hierarchie zwischen dem Inhalt von Anmerkungen und Lauftext existiert, was die Vorstellung eines relationalen Lesevorgangs unterstützt.
Was bedeutet dies nun für die Hierarchie und die Autoritätsverhältnisse zwischen Marginalien und Lauftext in diesem untersuchten Paragraphen? Handelt es sich bei den Marginalien hinsichtlich der Wissensvermittlung um eine Art Hilfsdiskurs, der den Lauftext unterstützt und die Funktion hat, den Lesenden zu dienen, in den eigentlichen Text einzusteigen? Kommentiert der Lauftext die Marginalien oder ist von immer wieder sich unterschiedlich ausprägenden Funktionen der Marginalien wie auch der anderen paratextuellen Elemente auszugehen, die dem Lauftext durchaus ebenbürtig oder überlegen sein können?
Die hier untersuchten Marginalien sind von einem zusammenfassenden, die Lesenden orientierenden und den Text gliedernden Charakter. Zwei der drei Marginalien geben in wenigen Worten den Inhalt von zwei Ausschnitten von Paragraph vii wieder. Die erste fasst, indem sie die Funktion des Paragraphentitels übernimmt, den gesamten Inhalt des Paragraphen zusammen. Die Marginalien zeichnen sich weder durch eine kommentierende Funktion aus, noch ergänzen sie den Lauftext. Weder schaffen sie Tiefenwirkung bezüglich des Diskurses, noch generieren sie eine zusätzliche Diskursebene.51 Bei den Marginalien handelt es sich somit nicht wie bei Genettes erwähnten Untersuchung der Anmerkungen, um Anmerkungen, die in den Lauftext eingebettet werden können und einen «unbestimmten Randbereich zwischen Text und Paratext» zur Folge haben.52 Es sind keine autographen Randnotizen, welche die Grenzziehung zwischen Rahmen und Text oft übergehen, so dass die hierarchische Trennung zwischen Text und ausserhalb des Texts aufgehoben wird,53 sondern es handelt sich um Randglossen, die Giuriato zufolge den Text paratextuell rahmen und ihn im Genettschen Sinne in der Funktion eines Begleitschutzes präsentieren.54
Eine solche Funktion kann man den untersuchten Marginalien bezüglich des Lauftexts in Paragraph vii durchaus zugestehen, gleichzeitig aber buhlen die Marginalien auch mit dem Lauftext um die Autorität auf den Seiten. Dabei geht es aber nicht um widersprüchliche Aussagen, die sich im Lauftext und in den Marginalien gegenüberstehen, es geht nicht um Diskussionen, die zwischen Randnotiz und Lauftext geführt werden, vielmehr können autographe Randglossen dem Lauftext die Vormachtsstellung streitig machen, indem sie die Lesenden verführen, den Lauftext zu ignorieren und sich nur mit deren Hilfe durch ein Buch zu bewegen, unterstützt durch weitere den Lauftext umgebende Elemente.
Dass Marginalien ohne Weiteres diese Funktion übernehmen können, geht aus dem Kommentar im Vorwort eines anderen Texts von Erik Pontoppidan, Collegium Pastorale Practicum, einer Homiletik, die 1757, fünf Jahre nach Første Forsøg paa Norges naturlige Historie erschien, hervor:
Nogle Marginalier havde jeg vel foresat mig at føye til hvert Stykke, for at give desto nøyere Anviisning paa dets særdeles Indhold: men saadant Forset lod jeg omsider fare, og det af den Aarsag, at samme, ellers gode Hielpe-Middel, undertiden skader mere, end det gavner, nemlig i Henseende til visse kræsne eller og letsindige Læsere, hvilke ofte misbruge Marginalierne til at giennemløbe alt for løselig, og allene med et flygtigt Øye, at overfare en Bog, særdeles af det Theologiske og Moralske Slags, giettende sig saa got som til, hvad dens Indhold kand være.55
Ich hatte mir vorgenommen, einige Marginalien zu jedem Abschnitt hinzuzufügen, um umso genauere Anweisungen von dessen besonderem Inhalt zu geben: aber darauf verzichtete ich schliesslich, und dies aus dem Grund, dass dasselbe, sonst gute Hilfsmittel, bisweilen mehr als es dient, nämlich bezüglich gewisser wählerischer Leser, welche die Marginalien oft missbrauchen, um ein Buch, besonders von theologischer und moralischer Art, allzu lose durchzugehen und es nur mit einem flüchtigen Auge überfliegen, sich so gut wie möglich zusammenreimend, was dessen Inhalt sein könnte.56
Pontoppidan scheint sich aufgrund dieses Zitats aus dem Vorwort von Collegium Pastorale Practium der Wirkung von Passagen zusammenfassenden Marginalien bewusst. Er weiss, dass sich gewisse Lesende dazu verleiten lassen, das Lesen auf sie zu beschränken und sich den Textinhalt mit deren Hilfe zusammenzuraten. Es macht aber den Eindruck, dass dieses Querlesen nicht in allen Textsorten auf dieselbe Weise zu verhindern gesucht wird wie beispielsweise in Collegium Pastorale Practium. Eine kurze Untersuchung der Marginalienpraxis in Pontoppidans Texten fördert nämlich eine gewisse Regelmässigkeit zutage: Theologische Texte wie Sandhed til Gudfrygtighed (1737)57 oder die oben erwähnte Homiletik beinhalten keine Marginalien, in topographischen und naturhistorischen Texten wie Origines Hafnienses, eller den Kongelige Residentz-Stad Kiøbenhavn (1760)58 hingegen werden Marginalien verwendet. Ein Unterschied, der sich nicht durch eine Entwicklung die Anmerkungspraxis betreffend erklären lässt, sondern wohl mit der Textsorte zu begründen ist.
Der Hinweis im Vorwort von Collegium Pastorale Practicum lässt die Tatsache deutlich werden, die bereits bei der Verlagerung der deskriptiven Elemente aus Paragraphentiteln in Marginalien angesprochen wurde, dass Marginalien – in der Ausprägung von Randglossen – nicht nur eine orientierende und gliedernde Funktion gegenüber dem Lauftext haben. Es ist zwar auf den untersuchten Seiten möglich, davon zu sprechen, dass sie die Funktion übernehmen, den Lesenden als Schwellentexte den Eintritt in den Lauftext zu erleichtern. Auch ist es möglich, zu behaupten, dass sie aus einer solchen Perspektive ein «Beiwerk zum Buch»59 darstellen. Es ist aber ebenso möglich, diese hierarchischen Zuweisungen umzukehren und den Lauftext auf diesen Seiten selbst als Hilfsdiskurs zu betrachten, der die Marginalien ausführt und kommentiert, bisweilen auch untergräbt. Dies bedeutet dass das Wesen von solchen Marginalien nicht marginal sein muss, dass der Paratext, um mit Genette zu sprechen, nicht grundsätzlich den funktionalen Charakter eines Hilfsdiskurses, der immer im Dienste des Haupttexts stehe,60 aufweist. Sind die Lesenden nämlich nicht gewillt, sich auf die 800 Seiten der Naturgeschichte einzulassen, erhalten paratextuelle Elemente wie Marginalien, Kupferstiche oder auch typographisch besonders hervorgehobene Wörter im Lauftext grosse Bedeutung. Durch sie ist es ihnen dennoch möglich, sich das wichtigste im Text vermittelte Wissen zu erschliessen: Diese paratextuellen Elemente heben die zentralen im Text behandelten Punkte hervor, sie bieten einen Überblick über das vermittelte Wissen und präsentieren die besonders bedeutenden Wissenselemente oder Standpunkte.
Die Analyse der Doppelseite aus Paragraph vii, welche die spezielle Gesteinsformation Stenesund diskutiert, hat gezeigt, dass die Diskussion dieses Phänomens nicht nur auf der Ebene des Lauftexts vor sich geht. Wissen über diese geologische Formation wird nicht nur durch den eigentlichen Lauftext generiert, sondern auch durch ihre gesamte physische Präsentation im Medium Buch; es kann auf der Seitenoberfläche bewusst wirkungsorientiert konstruiert werden. Dies bedeutet, dass bei einer Textanalyse die paratextuellen Elemente in den Bereichen rund um den Lauftext, aber auch diejenigen, welche den Lauftext durchziehen, nicht aussen vor gelassen werden dürfen, da sie das Wissen, welches in Form eines in einem Buch gespeicherten Texts vermittelt wird, beeinflussen. Vielmehr muss die gesamte Materialität einbezogen werden. Ein Text ist materiell bedingt und es ist unmöglich, ihn ohne Konsequenzen von seiner physischen Form loszulösen, bilden Form und Inhalt doch eine Sinn erzeugende Einheit, die von einem gegenseitigen Spannungsverhältnis geprägt ist.61 Aus diesem Grund ist es nicht möglich, eine klare Hierarchie zwischen Marginalien und Lauftext – die sich gegenseitig bedingen – auszumachen. Vielmehr kämpfen beide um die Autorität auf den Seitenoberflächen, die sich je nach Blickwinkel auf andere Weise auszeichnet und nicht abschliessend zugewiesen werden kann.
S. O.
Abbildungen
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Abbildung 1: E. Pontoppidan, Norges naturlige Historie, Titelblatt. |
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Abbildung 2: E. Pontoppidan, Norges naturlige Historie, S. 82-83. |
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Abbildung 3: E. Pontoppidan, Norges naturlige Historie, S. 80-81. |
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Abbildung 4: E. Pontoppidan, Norges naturlige Historie, S. 57. |
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Abbildung 5: E. Pontoppidan, Norges naturlige Historie, S. 86 und Kupferstich. |
Note
*Der vorliegende Aufsatz bezieht sich teilweise auf Beobachtungen, die in einem Kapitel meiner Dissertation ausführlicher wiedergegeben werden: Generierung, Strukturierung und Inszenierung von Wissen in Erik Pontoppidans Norges Naturlige Historie (Naturgeschichte Norwegens) von 1752/53, verteidigt an der Universität Zürich, 2010. Sie wird voraussichtlich 2011 in der Reihe Beiträge zur Nordischen Philologie erscheinen.
1 E. Pontoppidan, Det første forsøg paa Norges Naturlige Historie, forestillende dette Kongeriges Luft, Grund, Fjelde, Vande etc. og omsider Indbyggernes Naturel, samt Sædvaner og Levemaade, Bd. i, København, Rosenkilde og Bagger, 1977 [1752], S. 86.
2 Ders., Versuch einer natürlichen Geschichte Norwegens, Bd. i, Kopenhagen, Franz Christian Mumme, 1753, S. 98. Zur Übersetzung ziehe ich jeweils die entsprechende Passage aus der deutschen Ausgabe der Naturgeschichte, übersetzt von Johann Adolph Scheiben, heran, die bisweilen vom dänischen Original abweicht.
3 Ebd., Nachricht wegen der Kupferstiche, o. S.
4 Laut Gérard Genettes Definition besteht der Paratext aus Peritext und Epitext, vgl. G. Genette, Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, übers. von D. Hornig (Seuils, Paris, Editions du Seuil, 1987), Frankfurt a. M., Campus Verlag, 1989, S. 12. Wird in diesem Artikel von Paratext gesprochen, ist jeweils nur der Peritext gemeint, also diejenigen paratextuellen Elemente, die räumlich in direktem Zusammenhang mit dem Lauftext verortet sind.
5 D. Giuriato, Prolegomena zur Marginalie, in Ders. et al. (Hg.), «Schreiben heisst: sich selber lesen». Schreibszenen als Selbstlektüren, Paderborn, Fink, 2008.
6 E. B. Tribble, Margins and Marginality. The Printed Page in Early Modern England, Charlottesville, University Press of Virginia, 1993.
7 E. Pontoppidan, The Natural History of Norway, London, A. Linde, 1755.
8 D. F. McKenzie, Typography and Meaning, in G. Barber - B. Fabian (Hg.), Buch und Buchhandel in Europa im achtzehnten Jahrhundert, Fünftes Wolfenbütteler Symposium vom 1. bis 3. November 1977, Hamburg, Hauswedell, 1981, S. 81-126, hier S. 89.
9 Nach Tore Rem umfasst die Materialität eines Buches sämtliche Teile seines physischen Ausdrucks: «Det finnes noe jeg vil kalle en egen bøkenes ‘materialitet’ – altså de forskjellige bestanddeler i det fysiske uttrykket som hefter ved dette mediet, som omslag, innbinding, design, papir og trykkestil [Es gibt etwas, was ich als eigene ‚Materialität’ der Bücher bezeichnen möchte – die verschiedenen Bestandteile des physischen Ausdrucks, die an diesem Medium haften wie Umschlag, Einband, Design, Papier und Druckstil]» (T. Rem (Hg.), Boghistorie, Oslo, Gyldendahl, 2003, S. 13; Übersetzung S. O.).
10 G. Genette, Seuils, Paris, Editions du Seuil, 1987.
11 G. Stanitzek, Buch: Medium und Form - in paratexttheoretischer Perspektive, in U. Rautenberg (Hg.), Buchwissenschaft in Deutschland. Theorie und Forschung, Bd. i, Berlin, de Gruyter, 2010, S. 157-200, hier S. 158.
12 Genette, Paratexte, S. 10-11.
13 Ebd., S. 10.
14 Ebd., S. 18.
15 Bei Genette wird von auktorialen (Original-)Anmerkungen gesprochen.
16 Ebd., S. 308-309.
17 Ebd., S. 313.
18 Ebd., S. 312.
19 Giuriato, Prolegomena zur Marginalie, S. 188.
20 J. K. Kipf, «Pluto ist als vil als Luziver». Zur ältesten Verwendung gedruckter Marginalnoten in deutschen literarischen Texten (bis 1520), in B. Metz - S. Zubarik (Hg.), Am Rande bemerkt. Anmerkungspraktiken in literarischen Texten, Berlin, Kulturverlag Kadmos, 2008, S. 33-58, hier S. 57.
21 Tribble, Margins and Marginality, S. 6.
22 Pontoppidan, Norges naturlige Historie, S. 80.
23 Ebd., S. 88.
24 Ebd., S. 86.
25 Ebd., S. 81.
26 Ebd., S. 83.
27 Ebd., S. 84.
28 Ebd., S. 86.
29 U. Rautenberg, Marginalie, in Dies. (Hg.), Reclams Sachlexikon des Buches, Stuttgart, Reclam, 2003, S. 349.
30 In der deutschen Übersetzung wird ‚Weichmachen’ durch ‚Erweichen’ ersetzt.
31 Zu den verschiedenen Angaben, aus welchen sich ein Titel zusammensetzen kann, äussert sich beispielsweise Genette, Paratexte, S. 285.
32 Pontoppidan, Versuch einer natürlichen Geschichte, S. 98.
33 Ders., Norges naturlige Historie, S. 86.
34 Ders., Versuch einer natürlichen Geschichte, S. 98-99.
35 Ders., Norges naturlige Historie, S. 86.
36 Ders., Versuch einer natürlichen Geschichte, S. 98f.
37 Ders., Norges naturlige Historie, S. 86.
38 Ebd.
39 Ders., Versuch einer natürlichen Geschichte, S. 98.
40 Ders., Norges naturlige Historie, S. 86.
41 Ders., Versuch einer natürlichen Geschichte, S. 98.
42 Ders., Norges naturlige Historie, S. 86.
43 Ders., Versuch einer natürlichen Geschichte, S. 98-99.
44 Ders., Norges naturlige Historie, S. 86.
45 Ders., Versuch einer natürlichen Geschichte, S. 98.
46 Ders., Norges naturlige Historie, S. 86.
47 Ders., Versuch einer natürlichen Geschichte, S. 98-99.
48 In der deutschen Übersetzung ist dieses Netz an Verweisen noch dichter: Neben dem Lauftext, der dem Kupferstich auf der Doppelseite gegenüberliegt, sind im Gegensatz zur dänischen Originalausgabe zwei Marginalien angebracht. Die eine ist derjenigen der dänischen Ausgabe ähnlich: «Wunderliche Vermischung in den Bergen» (ebd., S. 98). Die zweite setzt sich folgendermassen zusammen: «Siehe das Kupfer No. IV.» (ebd.). Sie fordert folglich die Lesenden nicht zum Eintreten in den Lauftext auf, sondern verweist auf zwei paratextuelle Elemente: einerseits auf den gegenüberliegenden Kupferstich, der anders als in der dänischen Originalausgabe keinen Titel trägt, andererseits auf den Kommentar «Stellet vor den Berg bey Stenesund» in der Übersicht Nachricht wegen der Kupferstiche (ebd., o. S.), ein paratextuelles Element, das in der dänischen Ausgabe fehlt, in der deutschen jedoch dem eigentlichen Beginn des Lauftexts vorausgeht und bereits an dieser Stelle auf die besondere geologische Ausformung von Stene-Sund aufmerksam macht.
49 Von 30 Kupferstichen insgesamt in Norges naturlige Historie beschäftigen sich in diesem einen Kapitel von 18 Kapiteln fünf mit dieser Thematik.
50 Tribble, Margins and Marginality, S. 229.
51 Vgl. Genette, Paratexte, S. 312.
52 Ebd., S. 313. Quellenangaben, Kommentare oder andere Hinweise findet man, wenn nicht im Lauftext, ausschliesslich in den Fussnoten.
53 Giuriato, Prolegomena zur Marginalie, S. 193.
54 Ebd., S. 188.
55 Ders., Collegium Pastorale Practicum, indeholdende en fornøden Underviisning, Advarsel, Raadførelse og Opmuntring for dennem, som enten berede sig til at tiene Gud og Næsten i det hellige Præste-Embede eller og leve allerede deri, og ynske at udrette alting med Frugt og Opbyggelse; da saavel Embedets Art og Øyemerke, Personernes Beskaffenhed, deres almindelige og særdeles Pligter, som og fornemmelig deres retsindige og forsigtige Forhold i alle Tilfælde, efter Guds Ord og vores danske Kirke-Lov og Ritual, paa det tydeligste og alvorligste forestilles, København, Gottmann Friderich Kisel, 1757, Fortale, o. S.
56 Übersetzung S. O.
57 E. Pontoppidan, Sandhed til gudfryktighed: udi en eenfoldig og efter Muelighed kort, dog tilstrekkelig Forklaring over Sal. Doc. Mort. Luthers Liden Catechismo, indeholdende alt det, som den der vil blive salig, har behov, at vide og gjøre, København, Gottmann Friderich Kisel, 1737.
58 Ders., Origines Hafnienses, eller den Kongelige Residentz-Stad Kiøbenhavn, Forestillet i sin oprindelige Tilstand, Fra de ældste Tider af, indtil dette Seculi Begyndelse, København, Andreas Hartvig Godiche, 1760.
59 So der Untertitel in Genette, Paratexte.
60 Ebd., S. 18.
61 Dies zeigt sich in der deutschen und englischen Übersetzung, die sich nicht nur in Bezug auf die Sprache, sondern auch auf die Materialität von einander und von der dänischen Originalausgabe unterscheiden – beispielsweise beinhaltet Paragraph vii der deutschen Übersetzung nicht nur drei sondern fünf Marginalien – was Einfluss auf die Bedeutung des Textinhalts haben kann.